RECTO VERSO ist eine Veranstaltungsreihe der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) und ihrer Mitgliedsinstitutionen. Sie beleuchtet jedes Jahr aus wissenschaftlicher Perspektive ein Thema, das sich in der gesellschaftlichen Aushandlung befindet. Der aktuelle Veranstaltungszyklus widmet sich der «Kulturellen Teilhabe».
Die Veranstaltungen werden von den Mitgliedinstitutionen der SAGW organisiert. Dazu gehören 62 Fachgesellschaften sowie mehrere langfristige Forschungsprojekte. Sie repräsentieren verschiedene wissenschaftliche Disziplinen, von Geschichte und Politik über Literatur bis Wirtschaft.
Verteilt über die ganze Schweiz bieten die Veranstaltungen neue Perspektiven auf Themen, über die wir vielleicht schon viel zu wissen glauben. Diese Vielstimmigkeit passt zu den Geistes- und Sozialwissenschaften und besonders zur SAGW, die sich seit ihrer Gründung 1946 als Dachorganisation für ein weites Spektrum von Disziplinen versteht.
Bis 2021 fand die Veranstaltungsreihe unter dem Label «La Suisse existe – La Suisse n’existe pas» statt.
RECTO VERSO bezeichnet die Vorder- (Recto) und Rückseite (Verso) eines beschriebenen Blattes. Die Begriffe sind abgekürzt aus dem Lateinischen: «recto folio» («auf der richtigen Seite des Blattes») und «verso folio» («auf der hinteren Seite des Blattes»).
Zehn Themen
Seit 2015 fanden neun Veranstaltungszyklen zu vielfältigen Themen statt. 2024/2025 läuft der zehnte Zyklus zum Thema «Freiheiten».
#10 Freiheiten
Seit 2022 beschäftigt sich die SAGW vertieft mit der akademischen Freiheit und ihrer Bedeutung für die Forschung und Lehre an Schweizer Hochschulen. Ausgangspunkt waren mediale Debatten um eine «Cancel Culture» («Absage- oder Zensurkultur»), die mitunter auch im Hochschulumfeld geführt wurden, und welche die Diskussion um die Bedeutung einer offenen, kritischen und innovativen Wissenschaftskultur anregten. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe RECTO VERSO erweitert die SAGW die Perspektive auf die mehrdimensionale Freiheitsidee und beleuchtet die gut sichtbaren (Recto) als auch die weniger sichtbaren (Verso) Facetten von Freiheiten.
Freiheitsdiskurse haben in historischer Perspektive vielfältige Funktionen und Wandlungen erfahren. Die Bedeutung von Freiheit wird immer wieder hinterfragt, verhandelt und instrumentalisiert, sei es in der Kriegspropaganda, in Unabhängigkeitsbewegungen oder in Gesetzgebungsprozessen, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Idee der Freiheit bietet selbst bei Themen, bei denen weitgehend gesellschaftlicher Konsens herrscht, ein Argumentarium für unterschiedliche Positionen. Beispielsweise ist es kaum umstritten, dass ökologische Nachhaltigkeit ein erstrebenswertes Ziel ist. Doch die Geister scheiden sich darüber, ob Regulierungen zur Erreichung von Nachhaltigkeitszielen ungerechtfertigte Eingriffe in die individuelle und unternehmerische Freiheit darstellen oder ob sie notwendige Voraussetzungen schaffen, um auch künftigen Generationen ein freies Leben in einer intakten Umwelt zu ermöglichen.
Im Rahmen des Veranstaltungszyklus «Freiheiten» von RECTO VERSO reflektieren Mitgliedsinstitutionen der SAGW die vielschichtigen Bedeutungen von Freiheiten und zeigen unterschiedliche wissenschaftliche Perspektiven auf die Fragen auf, wann wir frei sind, wie es um unsere Freiheit steht und was es bedeutet, frei zu sein.
#9 Kulturelle Teilhabe (2022–2023)
#9 Kulturelle Teilhabe (2022–2023)
Im Jahr 2019 hat der Bundesrat die Faro-Konvention ratifiziert. Sie stellt einen Wendepunkt im Verständnis der Verbindung zwischen Kulturerbe und Gesellschaft dar: Sie fordert, dass möglichst alle Menschen am kulturellen Erbe teilhaben können. Fortan floss kulturelle Teilhabe als Priorität in die Kulturpolitik des Bundes ein. Die aktuelle Kulturbotschaft 2021–2024 versteht kulturelle Teilhabe als «aktive und passive Teilnahme möglichst vieler am Kulturleben und am kulturellen Erbe. Kulturelle Teilhabe zu stärken bedeutet, die individuelle und kollektive Auseinandersetzung mit Kultur, die aktive Mitgestaltung des kulturellen Lebens und den kulturellen Selbstausdruck anzuregen.»
In dieser Definition zeichnet sich eine Spannung zwischen zwei Kulturkonzepten ab: Das erste Konzept betrachtet Kultur als eine homogene und geteilte Einheit, zu der alle Menschen Zugang haben sollten – unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft, sozioökonomischer, geografischer oder physischer Situation. Das zweite Konzept anerkennt den Ausdruck vielfältiger und unterschiedlicher Kulturen, insbesondere eine Vielzahl von identitätsstiftenden, sinnstiftenden und wertschöpfenden Praktiken wie Kunst, Lebensweisen, Sprachen, Ethik oder Bräuche, die es zu fördern gilt.
Aus gesellschaftlicher Sicht bedeutet kulturelle Teilhabe, dass sich das Verständnis der Staatsbürgerschaft und der Rolle des Einzelnen in seinem Umfeld verändert. Diese Entwicklung führt zu einer Neudefinition der Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft und ihren Institutionen, seien sie nun politisch, kulturell oder wissenschaftlich. Im weiteren Sinne kann man die kulturelle Teilhabe als Teil eines umfassenderen Trends hin zu einer echten Kultur der Teilhabe betrachten.
In der akademischen Welt spiegelt sich dieser kulturelle Wandel in den zahlreichen methodologischen Diskussionen wider, die sich auf Citizen Science, Participatory Research, Community-based Research oder Living Labs beziehen. Diese Begriffe stellen die wissenschaftliche Praxis und die Verbindungen zwischen ForscherInnen und NichtforscherInnen in Frage. Die kulturelle Teilhabe hat auch einen wichtigen Einfluss auf die Forschung im Bereich des materiellen und immateriellen Kulturerbes, da sie die Darstellung der Wissenschaft in der Öffentlichkeit beeinflusst.
#8 Verantwortungsvoller(-loser) Konsum (2021)
#8 Verantwortungsvoller(-loser) Konsum (2021)
Trotz der nach wie vor prekären sanitären Lage wurde von der SAGW im Herbst 2020 unter dem Titel «Verantwortungsvoller(-loser) Konsum» eine achte Reihe für 2021 gestartet. Das gewählte Thema bezieht sich auf das 12. Nachhaltigkeitsziel (SDG) der UNO, das der Bundesrat in seiner Strategie für nachhaltige Entwicklung für die Umsetzung der Agenda 2030 als eine von drei prioritären Herausforderungen festgelegt hat. Die Akademie folgt dem Bundesrat, setzte «Konsum» als eines ihrer Schwerpunktthemen 2021 und wird bemüht sein, mit der wertvollen Beteiligung ihrer Mitgliedinstitutionen wesentliche Beiträge aus den verschiedenen Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften zur Thematik leisten. Die Ausschreibung ist bei den Fachgesellschaften, Kommissionen, Kuratorien und Unternehmen der SAGW wieder auf Interesse gestossen: Für 2021 sind ein Dutzend Veranstaltungen geplant. Die Akademie hofft, dass diese Veranstaltungen, wie auch die verschobenen der vorangegangenen Reihe, trotz der geltenden Einschränkungen unter zufriedenstellenden Bedingungen sowohl für die OrganisatorInnen als auch für die TeilnehmerInnen durchgeführt werden können.
#7 Wissensorte – Lieux de savoir (2020–2021)
#7 Wissensorte – Lieux de savoir (2020–2021)
Die siebte Veranstaltungsreihe befasste sich mit dem Thema «Wissensorte – Lieux de savoir». Im Herbst 2019 wurde ein Aufruf zur Einreichung von Projekten an die Fachgesellschaften sowie erstmals auch an die Unternehmen, Kommissionen und Kuratorien der Akademie veröffentlicht. Ziel war es, eine reichhaltige und vielfältige Reihe auf die Beine zu stellen, die die verschiedenen Facetten und Funktionen der Wissensorte, ihre gesellschaftliche Relevanz sowie Ihre Herausforderungen und neue Möglichkeiten im Zeitalter der Digitalisierung widerspiegelt. Die Ausschreibung für Projekte ist auf grosses Interesse gestossen: Von April 2020 bis Januar 2021 waren ein Dutzend Veranstaltungen geplant, die sich mit der Frage der Wissensorte aus der Sicht so unterschiedlicher Disziplinen wie Religionswissenschaft, Glaskunst, Dialektologie und Afrikastudien befassen. Leider hat die Covid-19-Pandemie das Programm durcheinandergebracht. Die meisten Veranstaltungen der Reihe wurden auf 2021 verschoben.
#6 Raum – Espace (2019)
#6 Raum – Espace (2019)
Nach der erfolgreichen fünften Veranstaltungsreihe organisiert die SAGW eine sechste Reihe zum Thema «Raum – Espace», die zwischen Mai 2019 und Januar 2020 13 Veranstaltungen beinhaltete. Die dabei präsentierten Interpretationen und Perspektiven auf den Raum waren erfreulich breit: Zwölf Fachgesellschaften aus fünf Sektionen haben dazu beigetragen.
#5 Kulturerbe total (2018)
#5 Kulturerbe total (2018)
Gegenstand der fünften «La Suisse existe – La Suisse n’existe pas»-Reihe der SAGW war eine ebenfalls aktuelle und wichtige, wenn vielleicht auch etwas weniger sensible Thematik: Das Kulturerbe. Am 17. Mai 2017 hatten das europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union den Entscheid getroffen, 2018 offiziell zum «Europäischen Jahr des Kulturerbes» zu ernennen. Diese Initiative verfolgte das Ziel, die Diversität und den interkulturellen Dialog zu würdigen, um den erheblichen Beitrag des Kulturerbes für die Wirtschaft und die internationalen Beziehungen der Europäischen Union aufzuzeigen. Auf Vorschlag von und in Zusammenarbeit mit der Nationalen Informationsstelle zum Kulturerbe NIKE griff die SAGW die Thematik auf und lancierte im Jahr 2018 eine neue Veranstaltungsreihe unter dem Titel «Kulturerbe total». Diese war dem materiellen wie auch dem immateriellen Kulturerbe gewidmet und unterstrich die Verflechtungen und Wechselwirkungen zwischen ihnen. Die NIKE rief die Schweiz auf, die Schweiz zu besuchen – die SAGW schloss sich diesem Appell an und erlebte gemeinsam mit vielen Interessierten bereichernde Austauschmomente sowie schöne Entdeckungen rund um die verschiedenen Facetten des schweizerischen Kulturerbes.
Lesen Sie gesammelte Berichte zur Veranstaltungsreihe in der Publikation «Kulturerbe total» (2018).
#4 Islam in der Schweiz (2017)
#4 Islam in der Schweiz (2017)
Im Mai 2017 lancierte die SAGW eine vierte Veranstaltungsreihe zum Thema «Islam in der Schweiz», die sich mit der polarisierenden Debatte über den Islam befasste. Der Islam sollte in seiner ganzen Vielfalt und Bedeutung als Weltreligion mit seinen zahlreichen Ausprägungen und Reformbewegungen präsentiert werden. Ziel war es, eine informierte und sachliche Diskussion zu ermöglichen.
Lesen Sie gesammelte Berichte zu diesem Veranstaltungszyklus in der Publikation «Islam in der Schweiz» (2018).
#2 Wohlfahrt und Wohlbefinden | #3 Migration und Mobilität (2016–2017)
#2 Wohlfahrt und Wohlbefinden | #3 Migration und Mobilität (2016–2017)
Für die Jahre 2016 und 2017 wurden zwei neue Veranstaltungsreihen lanciert. Ein Zyklus befasste sich mit «Wohlfahrt und Wohlbefinden», der andere mit «Migration und Mobilität». Insgesamt fanden 26 Veranstaltungen in der deutschen Schweiz und in der Romandie statt. Auf dem Programm standen zum Beispiel eine Veranstaltung zur Standardisierung afrikanischer Sprachen in der Diaspora, eine Vortragsreihe zum Bauen im Dienst der Wohlfahrt, eine Tagung über die religiöse Musik bei Migrantengemeinschaften in der Schweiz oder eine Veranstaltung zum Wohlergehen und Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz.
#1 Facettenreiche Schweiz (2015)
#1 Facettenreiche Schweiz (2015)
«La Suisse n’existe pas» – unter diesem Motto des Künstlers Ben Vautier präsentierte sich der Schweizer Pavillon an der Weltausstellung von 1992 in Sevilla. Im Kontext des Vorführens nationaler Identität, als das sich das Format der Weltausstellung verstehen lässt, war diese Anspielung auf die vier Landessprachen eine provokative Setzung. Heute, mehr als zwanzig Jahre später, lässt sie eine Vielzahl weiterer Assoziationen zu und scheint aktueller denn je. Weiterhin zeichnet sich die Schweiz durch relativ starke lokale und regionale Dimensionen (Gemeinden, Ortschaften, Regionen, Kantone) einerseits und eine relativ schwache nationale Dimension andererseits aus. Hinzu kommt eine grosse Vielfalt sowohl auf sprachlicher, politischer und ökonomischer als auch auf kultureller Ebene. Diese Beobachtungen nahm die SAGW zum Anlass, eine Veranstaltungsreihe zu lancieren, in der die vielen verschiedenen «Schweizen» zum Thema gemacht und aus unterschiedlichen geistes- und sozialwissenschaftlichen Perspektiven kritisch diskutiert werden.
Lesen Sie die gesammelten Berichte zum ersten Veranstaltungszyklus in der Publikation «La Suisse existe – la Suisse n’existe pas» (2015).